Forschungsprofil des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Über uns
Grenzziehungen zielen auf die Etablierung oder Aufrechterhaltung von Ordnungen, ob rechtlich fixiert, historisch tradiert oder symbolisch zum Ausdruck gebracht. Ordnungen wiederum kommen nicht ohne Grenzmarkierungen aus, sei es in Form von Linien auf der Landkarte oder als Unterscheidungsraster in den Köpfen. Die Einsicht, dass Grenzen und Ordnungen immer in dynamischen Wechselbeziehungen zu denken sind, ist leitend für die Arbeit des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION. Als zentrale Forschungs-einrichtung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) initiiert und bündelt das Center sozial-, kultur-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Analysen zu diesen Wechselbeziehungen.
Wir sehen Grenzen als Laboratorien, in denen sich gesellschaftliche Entwicklungen verdichten und dadurch besonders gut beobachtet, analysiert und antizipiert werden können. Zugleich gehen wir davon aus, dass neben nationalstaatlichen Ordnungen und ihren Grenzen auch transnationale und nicht-staatliche Grenz-Ordnungs-Konfigurationen relevant sind. Daher fragen wir nach den vielfältigen Praktiken der Markierung, Überschreitung, Auflösung und Neu-Etablierung von Grenzen und der damit einhergehenden Stabilisierung oder Transformation von politisch-rechtlichen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Ordnungen.
Wir sind überzeugt, damit ein Thema von besonderer gesellschaftlicher Brisanz identifiziert zu haben: In unserer globalisierten Welt ereignen sich Prozesse von Grenzziehung und Grenzüberwindung, Ordnungsbildung und Ordnungsauflösung zeitgleich und scheinen damit widersprüchlich zu sein. Während der Ruf nach nationalstaatlichen Ordnungen und ihren Grenzen immer lauter wird, um die Mobilität von Menschen einzuschränken, sind diese nationalstaatlichen Grenzen für Waren und Kapitalströme oder auch Technologien und Wissen weniger signifikant. Migrantinnen und Migranten können sich aber auch auf eine Menschenrechtsordnung berufen, um nationalstaatliche Grenzen zu überwinden. Dies führt vor Augen, dass wir uns in verschiedenen Ordnungen bewegen, die sich überlagern, aber auch in Konflikt zueinander treten können. Fraglich ist deshalb, wann und unter welchen Bedingungen die Grenzen dieser Ordnungen bedeutsam werden, wie sie sich transformieren und unter welchen Umständen es zu Grenz- und Ordnungskonflikten kommt. Auf welchen Ordnungen basieren Grenzen und inwieweit schaffen Grenzen neue Ordnungen? Wie wirkt es sich auf Ordnungen aus, wenn Grenzen in Bewegung geraten, und was verändert sich an Grenzen, wenn sich Ordnungen transformieren?
Forschungsansätze
Wir Forscherinnen und Forscher am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION verstehen Grenzen als institutionalisierte Formen von Differenzbildung, die unsere soziale Welt und unsere Orientierung in Zeit und Raum in grundlegender Weise strukturieren und damit maßgebliche Ordnungsleistungen vollziehen. Unter „Ordnung“ verstehen wir ein unser Handeln strukturierendes System mit normativer Geltung, welches auf Grenzsetzungen basiert. Ordnungen und Grenzen sind daher untrennbar miteinander verbunden – was unsere Begriffsprägung „B/ORDERS“ auf den Punkt bringt. Dabei sehen wir Grenzen und Ordnungen keinesfalls als natürlich und gegeben an, sondern als Ergebnis sozialer Praxis und Sinnstiftung, das im ständigen Wandel, „im Werden“, „IN MOTION“ ist. Unser multidimensionaler Ansatz ist darauf ausgelegt, Grenz- und Ordnungskonfigurationen in ihrer Dynamik zu erfassen.
Indem wir nicht nur nationalstaatliche Grenzen und Ordnungen untersuchen, sondern ebenso soziale, kulturelle, juristische und ökonomische wie auch wissensbasierte B/ORDERS, denken wir Ansätze der klassischen Border Studies weiter. Dies ermöglicht es auch, einen methodologischen Nationalismus zu vermeiden und der Komplexität von Grenz- und Ordnungsphänomenen Rechnung zu tragen, die durch globale Konfigurationen von Technologie, Wissen, Politik und Ökonomie signifikant werden.
Um die Herausbildung von Grenzen und Ordnungsmustern innovativ – auch in methodischer und theoretischer Hinsicht – zu erschließen und den komplexen Zusammenhang von Grenzen und Ordnungen angemessen zu erfassen, kommt der Interdisziplinarität der am Center angesiedelten Forschungen eine besondere Stellung zu. Dabei führt das Center grundlagenbasierte und international ausgewiesene Forschungsschwerpunkte der Viadrina sowohl im Gegenstandsbereich „Grenze“ als auch im Gegenstandsbereich „Migration“ zusammen.
Die Forschungen am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION knüpfen an den Gründungsauftrag der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) an und entwickeln ihn in inhaltlicher, methodischer und institutioneller Hinsicht weiter. Sie übertragen diesen zugleich in gegenwärtige und zukünftige Wissens- und Gesellschaftskontexte. Gelegen inmitten einer europäischen Metropolenregion und an nationalen Grenzen, stellt die Europa-Universität gleichsam die institutionelle Übersetzung der Gleichzeitigkeit einer Überlappung von Zentrum und Peripherie, von Nationalstaatlichkeit und Transnationalität, von Grenzziehung und Grenzauflösung dar. Der auf der Forschungslandkarte der HRK vermerkte Forschungsschwerpunkt „B/Orders in Motion" ist eines der zentralen Leitmotive für die weitere Profilierung der Europa-Universität Viadrina.
Gegenstandstandsbereiche am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION
Der am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION situierte Gegenstandsbereich „Grenze“ befasst sich mit der Erforschung von politisch-territorialen Grenzen, insbesondere von Nationalstaatsgrenzen, ebenso wie mit den oft miteinander verschränkten Grenzziehungen zwischen (Wirtschafts-)Organisationen, sozialen Gruppen, Ethnien, Generationen, Geschlechtern, als auch mit Wissens- und normativen Grenzen. Dabei sehen wir die Zusammenführung der klassischen Border Studies – der Erforschung politisch-territorialer Grenzen – mit den sozio-kulturellen Boundary Studies – der Erforschung von sozio-kulturellen Grenzziehungen – als besonders relevant an, zumal die Verbindung dieser beiden Forschungsstränge in der internationalen Forschung noch viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hat.
Für die Untersuchung des Verhältnisses von Grenze und Ordnung erscheinen drei zentrale Forschungs- und Analyseperspektiven besonders produktiv:
a) Grenzen, Ordnungsvorstellungen und Grenzkonstellationen
Eine zentrale Perspektive ist es erstens, die hinter den Grenzziehungsprozessen liegenden Ordnungsvorstellungen und -systeme in den Blick zu nehmen, um ein tieferes Verständnis für die fraglichen Grenzen und Ordnungen zu entwickeln. Grenzen sind nicht nur Funktionen von Ordnungen, sondern auch in sich geordnet. Dabei stellt sich auch die Frage nach der Qualität der Grenzen an sich, wie z.B. ihrer Durabilität und Permeabilität.
Wenn wir Grenzen aus einer Ordnungsperspektive analysieren, treten die multidimensionalen Prozesse des Ordnens, Kategorisierens und Abgrenzens zutage, durch welche Objekte, Personen oder auch Zeiträume differenziert und oftmals hierarchisiert werden. Diese Prozesse basieren auf einem komplexen Zusammenspiel von Praktiken, Diskursen, Netzwerken und Infrastrukturen. Um die Bildung und (Wieder-)Herstellung von Ordnungen erfahr- und analysierbar zu machen, ist es sinnvoll, Aushandlungs- und Transferprozesse oder auch Konflikte in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie diese von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren mitgesteuert und erlebt werden. An nationalstaatlichen Grenzen spielt, z.B. im Bereich der Grenzsicherheit, eine heterogene Konstellation aus staatlichen, privaten und korporativen Akteur:innen eine Rolle, die mithilfe von verschiedenen Sicherheitsdiskursen und materiellen sowie nichtmateriellen Praktiken und Infrastrukturen die nationalstaatliche Grenzordnung konstituieren. Im Bereich der Konfliktforschung kann die Analyse von Akzeptanz- und Tragbarkeitsgrenzen Aufschluss über die normativen Ordnungen von Konfliktparteien geben, die bei Überschreitungen dieser Grenzen ins Ungleichgewicht geraten oder in ihren Kernprinzipien kompromittiert werden.
b) Das Zusammenspiel verschiedener Grenzziehungs- und Ordnungsdynamiken
Zweitens interessieren wir uns für das Zusammenspiel von Grenzziehungs- und Ordnungsdynamiken, die sich gegenseitig überlagern, verstärken oder auch auflösen können. Basierend auf der Erkenntnis, dass wir uns in unserer sozialen Welt auf verschiedene Ordnungen und Grenzen beziehen – neben den nationalen auch auf die europäischen und globalen Ordnungssysteme, und neben den politisch-territorialen auch auf rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Grenzen – stellen wir die Frage, in welcher Beziehung diese verschiedenen Ordnungen und ihre Grenzen zueinander stehen. Wir können z.B. fragen, inwieweit an Grenzen verschiedene Ordnungen zusammentreffen, die in ein – hierarchisches oder auch anders geartetes – Verhältnis zueinander gebracht werden. Beispielsweise mag es relevant sein, ob eine politisch-territoriale Grenze mehrfach ordnungsdifferenzierend kodiert ist, indem sie nicht nur das nationalstaatliche Territorium definiert, sondern auch eine EU-Außengrenze darstellt. Um neue Perspektiven auf die Wechselwirkung zwischen Ordnungs- und Grenzaushandlungen einzunehmen, analysieren die am Center situierten interdisziplinären Forschungen außerdem die situative Kollision normativer Ansprüche wie auch die Frage der Hierarchisierung normativer Ordnungen. Im Bereich der Arbeitsforschung fragen wir nach z.B. nach der Ausbildung von ordnungsschaffenden Grenzen und grenzbildenden Ordnungen von privatwirtschaftlichen Unternehmen und anderen Organisationen der Erwerbsarbeit in „Mehrebenen“- oder rechtspluralistischen Systemen, in denen privates, staatliches, kirchliches und/oder internationales und supranationales/europäisches Recht ineinander greift.
c) Die Liminalität von Grenzen und die Neuschöpfung von Ordnungen
Drittens interessiert uns die Liminalität von Grenzen. Da Grenzen von verschiedenen Akteur:innen und Institutionen hergestellt werden, fällt auf, dass diese nicht immer eindeutig sind. Widersprüche und Konflikte können entstehen, wenn Ordnungen sich überlappen oder wenn Grenzen nicht eindeutig sind – wenn z.B. die politisch-territoriale Grenze nicht (eindeutig) mit einer Sprachgrenze zusammenfällt oder wenn globalisierte Wirtschaftsbeziehungen und transnationale soziale Verflechtungen nationalen Rechten und Sozialordnungen entgegenstehen. Aus der Überlappung von Ordnungssystemen können – zum Teil unintendiert – Grenzräume („borderlands“) oder auch Zwischenräume bzw. liminale Räume hervorgehen. Sie sind ambivalent: einerseits können sie Unsicherheiten, Entrechtung und Prekarisierung hervorrufen. Andererseits sind sie produktive Möglichkeitsräume, aus denen neue Ordnungen – oder auch „dritte Ordnungen“, „hybride Ordnungen“ – hervorgehen können. Diese Prozesse des Neuordnens, der Neuschöpfung von Ordnungen können anhand einer Grenzperspektive analysiert werden. Da neue Ordnungen, die sich in liminalen Grenzzonen herausbilden, auch für die sogenannten „Zentren“ relevant werden können, ermöglicht es der Blick auf diese Zonen, Entwicklungen von allgemeiner Bedeutung zu antizipieren.
Die interdisziplinären Forschungen zum Gegenstand „Migration“ am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION erschließen das Verhältnis von sozialen Ordnungen und Migration, das durch Grenzen konstituiert wird. Damit soll ein tieferes Verständnis für die Bedeutung von Grenzen in Bezug auf die Steuerung von menschlicher Mobilität und migrantischer Agency und die dadurch bedingte Veränderung von sozialer Ordnung erlangt werden.
Dabei interessiert uns, wie Grenzen „zu einer Methode“ werden, um Menschen zu kategorisieren und klassifizieren – z.B. entlang von Herkunft, Kultur, Ethnie, Gender, Bildung, Klasse und Arbeitsmarktnützlichkeit –, um ihre Mobilität zu kanalisieren und ihnen innerhalb einer Ordnung spezifische räumliche, soziale und zeitliche Positionierungen zuzuweisen. So wirken Staatsgrenzen wie semipermeable Membranen, die einigen Zugang und Rechte eröffnen, die sie anderen verwehren.
Grenzen sind hier wiederum nicht nur als politisch-territoriale zu verstehen. Vielmehr geht es auch um soziale und diskursive Grenzziehungen sowie um administrative Barrieren oder rechtliche Schranken, die zur staatlichen Einschließung und Ausgrenzung von Migrant:innen führen. Wenngleich innerhalb der EU die Funktion der Personenkontrolle weggefallen ist und politisch-territoriale Grenzen innerhalb der EU weniger wirkmächtig zu sein scheinen, treffen Migrant:innen auch jenseits der lokalisierbaren Staatsgrenzen auf vielfach gestaffelte Barrieren.
Von besonderem Interesse für unseren Ansatz ist die Frage, wie sich räumliche, soziale und temporale Dimensionen von Grenzen verschränken und hier liminale Räume oder auch Grauzonen schaffen. So können territoriale Grenzen in temporaler Hinsicht die Geschwindigkeit von Mobilität beeinflussen und Migrant:innen in Wartepositionen halten. Transitzentren schaffen – politisch motiviert – für die unterschiedlichen Bewohner:innen eigene Zeit-Räume. Grenzen können auch Räume der Gewalt eröffnen, in denen Menschen für einen unbestimmten Zeitraum rechtlos sind. Weitere lokalisierbare Grenzen bestehen z.B. in städtischen und ländlichen Wohnvierteln, die sich durch unterschiedliche Infrastrukturen oder auch den sozialen Status ihrer Bewohner:innen unterscheiden.
Von weiterem Interesse ist die Frage nach den Grenzen zwischen verschiedenen Ordnungen, die sich entweder überlappen oder miteinander in Konflikt treten und die sich auf Migrant:innen und ihre Positionierungen in Ordnungssystemen auswirken können. Dies ist etwa der Fall, wenn nationalstaatliche Souveränitätsansprüche mit universalen Menschenrechten kollidieren.